Rubrik: Europastrasse

Um 92 Zentimeter längere Nächte

Wieder quere ich den Polarkreis. Wieder ist er an der falschen Stelle markiert, in der Landschaft, in den Köpfen der Leute. Wieder Irreführung, wieder muss ich mich wundern. Doch die meisten verweilen nicht und so nivelliert sich alles wieder.

Diesmal beschäftigen mich andere Fragen. Es scheint mir völlig absurd, dass es in der Nacht dunkel werden kann. Mehr als 3 Wochen war ich nun nördlich dieses Kreises. Ich habe mich an Vieles gewöhnt. Wie ist es, wenn es in der Nacht dunkel wird? Wie ist Dunkelheit überhaupt? Eine bisher lebenslänglich-tägliche Erfahrung war mir nun wochenlang entzogen und ich kann sie nur mehr schwer nachvollziehen!

Ich selbst schon längst nicht mehr entlang der E75 unterwegs, Weiterlesen

Man hat mich ins Museum gesteckt

Doch der Reihe nach. Irgendwo von der E75, wesentlich weiter aus dem Süden, habe ich Vardø kontaktiert, die Gemeinde, habe über das Projekt erzählt, Ziel meiner Fahrt, den nördöstlichsten Punkt.

Ein paar Tage später bekomme ich eine Einladung um in Vardø auszustellen. Das verändert etwas in mir. Nun habe ich ein Ziel, im Wissen willkommen zu sein.

Und man heisst mich herzlich willkommen und … steckt mich geradewegs ins Museum. Da wohne ich nun. Bin ich tatsächlich museumsreif? Für einen Künstler natürlich das schönste Kompliment… Spass beiseite, es ist herrlich in diesem leerstehenden Museumsgebäude zu wohnen, fühle mich rundherum wohl, bin in guter Gesellschaft. Und ich habe mich natürlich auch vorab informiert:

Zwei Tage nach meiner Ankunft eröffnet Vardø seine neue Bibliothek im Rathaus. In diesem Zug wird auch die E75 Ausstellung eröffnet, mit allen Ehren.

Die Bilder hängen im Glashuset, einem modernen Anbau, vor 3 Jahren eröffnet. Mir imponiert wie die 2.000 Einwohner grosse Gemeinde kulturelle Impulse setzt. Der Niedergang der Fischereibranche hat den Ort vor mehr als zehn Jahren schwer getroffen. Leerstände bürgen davon. Man hat kurzerhand Street Artists eingeladen. Überall Interventionen an den Hafengebäuden. Plötzlich ist ein ganzer Strassenzug, der Tristesse ausstrahlen könnte, spannend. Plötzlich gibt es einen Umgang, eine Diskussion mit der jüngsten Geschichte. Hat das meine Heimatstadt auch?

Ich gehe nach Hause, ins Museum, und denke darüber nach.

vardoOpening

Foto: Asbjørn Nilsen

Vardø!

Es ist vollbracht!!! Ich bin in Vardø angekommen. Es liegt weiter im Osten als Kairo oder Istanbul, vor allem aber weiter nördlich als so ziemlich alles Andere inklusive Murmansk. Habe die E75 in Ihrer ganzen Länge bereist, nebenbei einen Weltrekord aufgestellt!

vardoArrival

Ursprünglich war es für mich eine Fahrt von einem Ende der Welt zum Anderen. Das kam mir irgendwann anmaßend vor. Dieser Gedanke hat mich dann die ganze Fahrt beschäftigt. Warum sollte ausgerechnet Linz die Mitte der Welt darstellen? Ist die Welt nun eine Scheibe oder eine Kugel? Dazu habe ich ja schon Überlegungen in diesem Blog angestellt.

Schließlich kam ich zu einer tollen Erkenntnis: Die Welt ist tatsächlich rund. Daher gibt es kein Ende der Welt! Wir sind alle gleichgestellt! Doch Europa hat ein Ende. Europa ist eine Scheibe!

Würde man einerseits Vardø und Sitia, die Endpunkte der E75 direkt mit einem Faden verbinden, andererseits Europa aus dem Globus ausschneiden und dann flachklopfen – der Unterschied der Sehne dieses gewölbten Europas und der flachgeklopften Scheibe wären lediglich 60km! Doch ich bin mehr als 60 Kilometer an Umleitungen wegen Baustellen etc. gefahren. Ergo: Europa ist eine Scheibe, doch die Welt ist rund. Daher hat Europa mehrere Enden, Vardø ist eines davon, Sitia ein Weiteres. Die Welt hat kein Ende!

Endlich habe ich eine gute Erklärung. Dieser Gedanke musste fast die ganze Fahrt reifen, bis er nun endgültig geformt war. Zufrieden fahre ich nun auf dieses Ende Europas zu.

In Vardø wartet man schon auf mich, man heißt mich herzlich willkommen, begrüßt mich herzlich – und zwar mit den Worten: Welcome to the End of Europe – ich bin angekommen.

Wie man die Moral der Mannschaft aufrecht erhält

bratei2Ich bin nun bald 2 Monate und mehrere tausend Kilometer unterwegs. So lange auf so engem Raum mit sich selbst, da muss man sich schon ganz gut mit sich vertragen. Sonst ist diese Zeit zu lange um sie gut zu überstehen. Ein solches Projekt im ständigen Konflikt zu bewältigen wäre nichts für mich. Bisher ging es zum Glück ganz gut. Ja, der eine oder andere Selbstvorwurf kommt natürlich. Das eigene Argument dagegen und schon überwirft man sich. Paare und Gruppen haben es da einfacher, sie können sich trennen – doch ich?

Daher ist es wichtig, die Moral der Mannschaft aufrecht zu erhalten. Man entwickelt dazu Strategien und sammelt Erfahrungen. Über die Wichtigsten will ich hier schreiben:

1. Ordnung halten
(Oder, dass man die Dinge immer dort hin gibt, wo sie hingehören)

Die Fahrt entlang der E75 in all ihren Facetten ist ohnehin komplex genug. Die Ausrüstung muss immer einsatzfähig sein, Akkus stets geladen, inklusive der eigenen. Jede Nacht braucht man einen neuen Ort zum Übernachten. Und so weiter. Also Ordnung halten. Das funktioniert natürlich nicht immer und gerade dieser Punkt ist bei Alleinreisenden extrem heikel. Wer ist der Schuldige, wenn etwas nicht an seinem Platz ist?

2. Gutes Essen

Gutes Essen hebt die Moral unwahrscheinlich. Das ist streckenweise nicht so einfach. Das Hauptproblem, die Monotonie. Burger, Pizza und Chicken Wings als einziges Angebot über hunderte von Kilometern ist natürlich ein Fallstrick für jede Moral. Hier hilft es, das Land zu wechseln, dann bekommt man Steak, Schweinshaxe, und für Leute die es eher Richtung vegetarisch bevorzugen, ein Huhn. Selbst zu kochen ist da oft der gute Ausweg. Denn der Fitnesssalat mit seinen Hendlstreifen drückt gelegentlich schon auf die Moral.

3. Konsum

Konsum ist natürlich ganz wichtig. Konsum befriedigt. Das hatte ich bereits im Vorschulalter erkannt. Doch es ist tückisch. Wohin mit den ganzen Dingen, wenn man so lange unterwegs ist. Der Kreislauf verkürzt sich – die Latenzzeit vom Kauf zur Entsorgung wird kurz und offensichtlich. Das wiederum führt aber dann doch dazu, den Konsum deutlich einzuschränken. Außer ein paar Schneekugeln (und Essen) habe ich wenig gekauft. Zuhause kann man Haus oder Wohnung vollräumen. Aber hier? Das ist eine der schönen Lektionen dieser Fahrt, man braucht nicht viel zum Glücklich sein. Außer natürlich einer guten Kamera…

4. Gute Fotos

Das ist Moralheber Nummer Eins – das Wichtigste. Ist die Moral der Mannschaft gut, werden auch die Bilder besser. Umgekehrt könnte es zum Teufelskreis werden, doch die Spirale dreht sich zum Glück nach oben!

Literaturtipps:
Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, Robert M. Pirsig
Haben oder Sein, Erich Fromm

Um den Kreis kreisen

arcticCrossed

Ich gebe zu, am meisten habe ich mich in den letzten Tagen auf den Polarkreis gefreut. Nicht auf die Nationalparks, nicht auf die schönen Seen, nein, auf den Polarkreis. Alle anderen Sehenswürdigkeiten lasse ich links liegen.

Schilder kündigen ihn schon viele Kilometer vorher an. Wenige Kilometer nördlich von Rovaniemi, Hauptstadt vom finnischen Lappland, soll er die E75 queren. Mal sehen.

Es dauert tatsächlich nicht lange und eine Skulptur überragt die Strasse, wohl als Symbol für dieses Phänomen. Zweihundert Meter weiter überragt eine gleiche Skulptur die andere Fahrbahnhälfte. Das kommt mir schon eigenartig vor, denn so breit kann der Polarkreis nicht sein. Ich bin schon am Äquator gewesen, der ist relativ schmal. Der Polarkreis kann unmöglich breiter sein.

Direkt neben Skulptur und Strasse liegt ein Souvenir Outlet. Dessen Länge in auffallender Übereinstimmung mit dem Abstand der Skulpturen. Es ist jedenfalls ein Outlet, dass sich gewaschen hat. Mit allen Wassern. Sogar mit dem Nikolaus wirbt man, er lebe hier etc…  Es wird mir alles ein wenig viel.

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Nun muss ich der Sache nachgehen. Sehr zu meinem Schrecken stelle ich fest, der Polarkreis liegt gar nicht hier!!! Bei meinen Polarkreisreisen, es ist übrigens meine erste, führe ich immer einen GPS Empfänger mit. Die Genauigkeit des Geräts beträgt 3 Meter. Doch der Kreuzungspunkt des Polarkreises mit der E75 ist mehr als vier Kilometer von hier entfernt!

Man kann im Souvenir Outlet Zertifikate kaufen, dass man den Polarkreis überquert hat, T-Shirts mit dem Aufdruck ‘I crossed the arctic circle’, doch das alles stimmt nicht. Leute, die hier umkehren haben ihn bei Weitem nicht überschritten! Wieviele Hunderte oder gar Tausende mögen es gewesen sein, führen ungültige Zertifikate mit sich, teuer bezahlt! Daran möchte ich gar nicht denken.

Es beschäftigt mich, ich finde eigentlich nur eine schlüssige Erklärung:
Genauso wie es einen geografischen und einen magnetischen Nordpol gibt (die Erdachse ragt aus dem geografischen heraus), gibt es einen touristischen und einen geografischen Polarkreis.

Der touristische Polarkreis ist kein physikalisches Phänomen, sondern ein wirtschaftliches. Man kann leicht fehlgeleitet werden, wenn man nicht achtsam ist.

Der geografische Polarkreis hingegen ist ohne Hilfsmittel praktisch gar nicht auszumachen. Ich habe mich trotzdem dorthin aufgemacht. Gleich hinter einem Elch-Schild war es dann so weit. Zuerst dachte ich, das Schild sei eine Art Markierung für Eingeweihte – feiner finnischer Humor. Doch dann waren es doch noch 300 Meter weiter bis zum eigentlichen Kreuzungspunkt mit der Strasse. Mein Foto des Polarkreises sei all jenen gewidmet, die vier Kilometer von hier in die Irre geführt wurden.

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Kreuzungspunkt des Polarkreises mit der E75

PS: Übrigens bewegt sich der Polarkreis! Derzeit rund 14 m pro Jahr in entgegengesetzter Richtung des Touristenzentrums, also nordwärts. Das hat damit zu tun, dass die Neigung der Erdachse relativ zur Ebene ihrer Umlaufbahn nicht fix ist, sondern – physikalisch gesprochen – eiert. Das hängt wiederum mit dem Mond zusammen, der ein gemeinsames Schwerpunktsystem bildet, das hier zu betrachten ist. Dieses Erdachseneiern erklärt jedoch die festgestellte Diskrepanz nicht.